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8 / 2010

AUGUST NATTERER

Berühmt wurde Natterer durch seine halluzinatorischen Zeichnungen, sein «Wunderhirthe» und «Weltachse mit Hase» hat mittlerweile fast Kultstatus.

26 Jahre, von 1907 bis zu seinem natürlichen Tod 1933, war August Natterer gegen seinen Willen in zwei württembergischen Heilanstalten eingesperrt. Das «erste» Leben des ambitionierten schwäbischen Elektrotechnikers war von durchaus bürgerlicher Reputation. Er hatte in Würzburg ein eigenes Geschäft eröffnet und lieferte sogar an Wilhelm Röntgen. Um sich über Neuheiten zu informieren, hatte er die Weltausstellungen in Chicago und Paris besucht. Er war verheiratet, doch ging er, «um seine zarte Frau vor dem Gebären zu bewahren», zu Prostituierten. Das muss dem katholisch Erzogenen enorme Schuldgefühle bereitet haben.

Als dann die Geschäftsaufträge ausblieben, weil die Universität einen billigeren Schlosser eingestellt hatte, kam Existenzangst hinzu. Die Kluft zwischen Ich-Ideal und realem Abstieg empfand Natterer wohl als individuelles Versagen. Der schwäbische Tüftler stürzte sich immer hektischer auf Erfindungen, die aber keinen Erfolg hatten. 1907 kam es zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch und zu Halluzinationen.

Seine Angehörigen brachten ihn in die Psychiatrie, der er nicht mehr entkam. Ein Circulus vitiosus entstand. Um seine totale Machtlosigkeit und sein Ausgeliefertsein zu kompensieren, steigerte sich Natterer immer tiefer in seine Wahnwelt, in der er als Welterlöser und Napoleon IV. seine Allmacht fantasierte. Das wiederum begründete den Verbleib in der Anstalt. Er lebte nun quasi in zwei Welten. Die reale forderte ohnmächtige Anpassung an die Anstaltsregeln, drohte doch die Strafe mehrmonatiger Bettruhe.

Als qualifizierter Techniker reparierte Natterer Uhren und erfand nüchterne Maschinen auf dem Papier. Seine Traumwelt dagegen sollte die äussere und innere Bedrängnis bannen, sie gewinnt zwar ebenfalls mit Zirkel und Lineal, aber in assoziativen Konfigurationen Gestalt. Sein zierlicher Wunderhirte mit Stab und Wolfshund steht auf einem waagrechten Bein, dessen Fuss in einen Frauenkopf mit üppig herabhängenden Haaren übergeht. Eine Schlange, in deren Leib ein weibliches Genital gezeichnet ist, kann ihm nichts anhaben. Das Ganze schwebt im leeren Raum, dessen Blau das Sakrale der Bildsphäre noch steigert. Im Gespräch mit Prinzhorn, der ihn mehrmals besuchte, äusserte Natterer: «Der Hirt bin ich, der gute Hirt – Gott!»

Mit akribisch feinen Strichen ist auch die «Weltachse mit Hase» ausgeführt. Der auf einem zylindrischen Körper mit Pferdefüssen hockende Hase symbolisiert «das zerbrechliche Glück». Über ihm schweben eine Wolke und ein Leidenskelch. Auf der «Hexenkopf-Landschaft» mutiert die Nachthaube der Hexe jenseits der Rüsche aus Bäumen zu einem Totenschädel. Das Blatt ist doppelseitig bemalt, um Transparenzeffekte zu ermöglichen.

Sie spiegeln Natterers Faible für Metamorphosen. Er war sich wohl auch seiner Doppelexistenz zeitweise bewusst, da er einmal versprach, nicht mehr Napoleon IV. zu sein, wenn man ihn nur entlasse.

Zu sehen sind die Werke Natterers in der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg

http://prinzhorn.uni-hd.de/